Colleg für Führung und Persönlichkeit

Colleg für Führung und Persönlichkeit
Dieter Hirsmüller

Mein Lebensauftrag

Wozu bin ich hier?
Wir sind Empfangende und Gebende

„Es gehört zum Menschsein, dass wir in unserem Leben etwas bewirken,
etwas verwirklichen, etwas erreichen wollen.
Offen oder insgeheim streben alle Menschen nach etwas,
das zu realisieren in ihrem konkreten Leben bedeutsam ist,
ihrem Leben Sinn gibt.“
VERENA KAST

Immer neu sind wir vor Fragen gestellt, die eng mit dem Sinn unseres Lebens verbunden sind: „Wozu bin ich hier?“, „Was ist das Ziel meines Lebens?“, „Was will, was soll ich in meinem Dasein?“.
Bevor wir uns auf die Suche nach Antworten begeben, möchte ich Sie mit einigen Überlegungen, die den Stellenwert dieses Lebensthemas hervorheben, einstimmen.

„Suchst du das Höchste, das Größte?
Die Pflanze kann es dich lehren.
Was sie willenlos ist, sei du es wollend – das ist’s.“
FRIEDRICH SCHILLER

Mit diesem Bild aus der Natur und der anknüpfenden Aufforderung bringt der Dichter auf prägnante Weise zum Ausdruck, worum es geht:
Wollend die geschenkten Möglichkeiten ergreifen, sie nutzen für den eigenen Lebensauftrag in der Einsicht, dass dem Menschen, wie jedem anderen Lebewesen, eine vorantreibende Kraft und schöpferische Lebensenergie mitgegeben ist, die sich entfalten will. Sie möchte sich in ihrer individuellen Einzigartigkeit zum Ausdruck bringen, sich verwirklichen.
Diese Kräfte tragen wir in unseren Genen als Essenz des jahrmillionenlangen evolutiven Schöpfungsprozesses. Sie befähigen uns, im „Lebenskampf“ zu bestehen. Wir sind aufgerufen, ja dazu bestimmt, sie zu nutzen. Wir können und sollen uns bewegen, tun, schöpferisch sein und manchmal auch kämpfen. Die Lebensenergien unterstützen uns, mit den unausweichlichen Widrigkeiten und Risiken, mit Niederlagen und Unsicherheiten umzugehen.
Der Mensch hat im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten die Freiheit - in unserem Kulturkreis -, zu wählen, wofür er seine Lebenskräfte einsetzen möchte. Dass diese sich auch auf destruktive Weise verwirklichen lassen, erfahren wir immer wieder und ganz besonders bei einem Blick in die Menschheitsgeschichte mit ihren grausamen Schattenseiten wie Unterdrückung, Gewalttätigkeit und kriegerischen Auseinandersetzungen. Und leider auch – und immer noch - bei dem Blick auf die aktuellen Krisengebiete der Welt.

Auch die biblischen Gleichnisse von den „Talenten“ (Mt 25,14) und vom „Fruchtbringen“ (Joh 15,16) fordern auf, das uns Mitgegebene zu mehren:
Ein Gutsherr verreist und vertraut seinen Dienern sein Vermögen an. Dem einen gab er fünf Talente Silbergeld, einem anderen zwei und einem weiteren Diener eines, je nach deren Fähigkeiten. Nach seiner Rückkehr hatten der erste und zweite das ihnen anvertraute Geld durch kluges Wirtschaften verdoppelt. Der dritte aber hatte das Geld in der Erde vergraben und gab das eine Talent zurück. Der Gutsherr lobte die zwei ersten Diener ob ihrer Klugheit und tadelte den dritten wegen dessen Verzagtheit.
Die Gleichnisse können uns lehren, dass die Talente zwar ungleich verteilt sind, aber jedem Menschen zumindest ein Talent anvertraut ist. Wir sollen damit etwas anfangen, die Talente nutzen. Und sie wollen uns wohl vermitteln, dass es nicht genügt, das genetische Startkapital zu besitzen. Es soll verantwortungsbewusst eingesetzt werden – mit einem angemessenen persönlichen Engagement und Vertrauen in das Gelingen.
Es liegt an uns, diese Schaffens-Spirale in Gang zu setzen und weiter zu bewegen.

Das bekannte und bewährte Prinzip von Geben und Empfangen, das auch die Weisheitslehren der Menschheit durchdringt, gilt nach wie vor:
„Du wirst ernten, was du säst, du wirst empfangen, was du gibst“.
Im Wirtschaftsleben sprechen wir von „Nutzen bieten“ und „Nutzen empfangen“. Es besagt konkret, dass der Wert eines Produktes oder einer Leistung sich danach bemisst, welchen Nutzen man damit anderen bieten kann.

Bei den Überlegungen zum eigenen Lebensauftrag stellt sich so die Frage:

Welche Früchte bringe ich – für die Mitmenschen, für die Gesellschaft und natürlich für mich selbst? Für welche Ziele will ich mich engagieren?

Ich möchte an dieser Stelle an einen Aspekt erinnern, der uns in seiner elementaren Bedeutung meistens nicht bewusst ist:

Wir alle waren zunächst Empfangende.

Die Eltern schenkten uns das Leben mit all den physischen und geistigen Voraussetzungen, sie wiederum waren Empfangende ihrer Vorfahren.
Die geistigen Vordenker und arbeitenden Menschen vergangener Jahrhunderte, Erzieher und Pädagogen von heute schenkten uns Wissen, Anschauungen und ethische Prinzipien, die uns erst in die Lage versetzten, für uns selbst zu sorgen und selbst geben zu können.
Mit Respekt dürfen wir auf das blicken, was Generationen vor uns, oft unter Entbehrungen, mit größter Mühe und persönlichen Risiken entdeckt, geschaffen, geleistet haben. Wir dürfen es heute in Anspruch nehmen – ganz umsonst.
Wir sind zunächst Beschenkte.
Der Philosoph Josef Pieper (1904 – 1997 aus „Lesebuch“ macht in diesem Sinne darauf aufmerksam:

„..es ist ja nicht so, als setze der Mensch, wenn er in Freiheit das Gute tut, seinen Fuß zum ersten Mal auf einen noch niemals betretenen oder gar überhaupt noch nicht gebahnten Weg. Vielmehr ist alles sittliche, das heißt auf Entscheidung und Verantwortung gegründete menschliche Tun, eine bloße Fortsetzung und Weiterführung von etwas, das längst begonnen hat und im Gang ist.“

Wir dürfen uns selbst an diesem Prozess von Geben und Empfangen beteiligen – wissend, dass wir nur geben können, was wir empfangen haben.
Mit unserem Geben und Schaffen nehmen wir teil am andauernden Schöpfungsgeschehen. Wir sind so aktiv Mitgestaltende an der Entwicklung von Leben und der Menschheit.
Jede, Jeder ist beteiligt – ist es nicht eine große, reizvolle Aufgabe?

Dass diese Aufgabe ganz wesentlich zu dem von uns so sehr herbeigesehnten Sinn des Lebens beiträgt, betont auch Viktor Frankl (1905 – 1997, Begründer der Logotherapie).
Nach seinen Erkenntnissen ist der Mensch motiviert durch die Erfüllung von sinnvollen Aufgaben, durch das Wissen, gestaltend und schöpferisch einer Aufgabe, einem Werk zu dienen. „Solange der Mensch einen Sinn in seinem Tun zu erkennen vermag, ist er zu Höchstleistungen bereit und fähig. Sobald und solange ein ‚Wozu’ erkannt wird, verlieren Ängste und Nöte des Menschen an Gewicht und werden verborgene Kräfte frei und aktiviert“ („Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn“).

Was Frankl hier beschreibt, lässt sich in vielen Lebensbereichen beobachten. Menschen erfahren vor allem dann innere Zufriedenheit, wenn sie bereit sind, das, was sie vermögen, an andere weiterzugeben – durch den Dienst an einer Sache oder an Menschen (ehrenamtliches Engagement, Einsatz für sozial Schwache oder im Vereinsleben etc.).

Das Thema „Lebensauftrag“ gewinnt seine Bedeutung auch mit dem Blick auf das gesellschaftlich vielstimmig diskutierte Thema „Arbeit“. Sie hat nach Joachim Bauer ein Doppelgesicht. Einerseits gibt sie Befriedigung und Wohlstand, andererseits kann sie dem Menschen auch schaden. In seinem Buch „Arbeit“ beschäftigt sich der Neurobiologe und Mediziner mit der Entwicklungsgeschichte der Arbeit der vergangenen 10.000 Jahre. Er fragt „was ist Arbeit aus der Sicht des Gehirns“ und analysiert die heutige Arbeitswelt mit ihren Problemen und Chancen.
Bauer verweist auch auf die Enzyklia „Laborem exercens“ von Papst Johannes Paul II., die der menschlichen Arbeit gewidmet ist. Dieses Dokument ist eine Art Standortbestimmung der menschlichen Arbeit, wobei sie u.a. die Würde und die Rechte des arbeitenden Menschen, aber auch die Gefahren, denen er ausgesetzt ist, betont. Und: „Der Mensch ist zur Arbeit berufen“.

ZUM INNEHALTEN

  • Mit was sind Sie beschenkt worden?
  • Welche Einsichten gewinnen Sie daraus für Ihren Lebensauftrag?

Schließlich noch ein Impuls eines großen Denkers des 20. Jahrhunderts:

„Verlieren Sie sich nicht in unnützen Grübeleien darüber,
was Sie wohl taugen mögen. Es bedarf nur dieses einen:
Dass Sie Ihr Bestes tun. Sobald Sie geben, was Sie vermögen,
sind Sie aufs innigste mit dem schöpferischen Wirken vereint. ...
Auf eben diesem Platz sind wir ein treues und
höchst nützliches Atom im Universum.“
P. TEILHARD DE CHARDIN SJ.
(Theologe, Philosoph / 1881 – 1955)

Das Wesentliche
Impulse

  • Es ist eine spannende und reizvolle Aufgabe, den Fragen nachzugehen: Wozu bin ich hier? Was ist mein Lebensauftrag? Es sind auch die Fragen nach dem Sinn Ihres Lebens.
  • Wir Menschen waren zunächst „Empfangende“. Die Menschen, die vor uns lebten und wirkten und die, die uns Erfahrungen und Wissen vermittelten, waren die „Gebenden“.
  • Machen Sie sich bewusst, dass es etwas gibt, das nur Sie zu verwirklichen vermögen. Sie in Ihrer Einmaligkeit, mit Ihren ganz persönlichen Talenten und Fähigkeiten.
  • Diese Einzigartigkeit ist etwas Wertvolles, etwas Kostbares, ein großes Geschenk des Lebens. Es ist Ihr wahres Vermögen. Auf diesem Fundament können und sollten Sie Ihren Lebensauftrag, das, wozu Sie berufen sind, erkennen und verwirklichen.
  • Seien Sie sich bewusst, dass Sie mit dem, was Sie geben, was Sie verwirklichen, teilhaben am andauernden Schöpfungsprozess. Die Zukunft ist grundsätzlich offen, wir Menschen gestalten sie mit unserem Denken und Tun wesentlich mit.
  • Glauben und vertrauen Sie darauf, dass „sich ganz entfalten können“, „glücklich und erfüllt leben“, vor allem dann gelingt, wenn Sie Ihre innersten Wünsche und Sehnsüchte hören und im Rahmen des Möglichen auch leben.
  • Sie selbst haben es in der Hand, im Kopf und im Herzen, wie Sie Ihre Möglichkeiten nutzen und für ein gelingendes Leben verwirklichen.
  • Mit den persönlichen Zielen schaffen Sie sich eine Grundorientierung und damit einen übergeordneten Horizont. Er hilft, die alltäglichen Aufgeregtheiten gelassener, angemessener einzuordnen. Mit ihnen setzen Sie selbst Akzente und Prioritäten. Bedenken Sie: „Wer den Hafen nicht kennt, für den ist kein Wind günstig“.
  • Nutzen Sie für Ihre Ziele Ihre persönlichen Begabungen und die Signale aus Erfahrungen, in denen Sie besonders lebendig waren. Formulieren Sie auch lockende, Sie begeisternde Ziele. „Wenn das Leben keine Vision hat, nach der man sich sehnt, die man verwirklichen möchte, dann gibt es auch kein Motiv, sich anzustrengen.“ ERICH FROMM
  • Setzen Sie bei der Tagesplanung, bei allen Aufgaben und Vorhaben eindeutige Prioritäten. Ein Geheimnis von Erfolg und Zufriedenheit liegt in der Konzentration auf das wirklich Wesentliche!
  • Verwenden Sie für Ihre Planungen bewährte methodische Werkzeuge. Sie helfen, sinnvoll mit Ihrer kostbaren Zeit umzugehen. Sie geben Sicherheit und stärken Ihre Professionalität, gerade auch im Berufsleben.
  • Geben Sie sich immer wieder Rechenschaft und verbinden Sie damit eine Standortbestimmung. Mit einem Blick auf den verflossenen Tag, auf die vergangene Woche, auf ein zurückliegendes Jahr leben Sie bewusster. Dieser aufmerksame Blick hilft zu erkennen, ob der Kurs noch stimmt oder ob neue Wege einzuschlagen, neue Ziele anzustreben sind.
  • Haben Sie bei diesen Überlegungen auch im Blick, dass Sie offen bleiben für das, was das Leben Ihnen ohne gezieltes Wollen anbietet. Leben ist immer auch unbestimmt, unvorhersehbar und oft auch unberechenbar. Bleiben Sie bereit für die Überraschungen Ihres Lebens, für die Zufälle. Sie wollen uns mit ihrem „Zu-fallen“ etwas sagen.
  • Unabhängig davon, wie alt Sie sind: Überlegungen zu Lebensphasen des „Frühlings“ sind reizvoll und möglich. Sie beleben und bringen Farbe in den Alltag.
  • Geben Sie dem Anfänger - Geist Raum in Ihrem Leben. Mit Neugierde und Offenheit für das Neue kann dies gelingen. Die Kinder machen es uns vor. Die Unschuld und Unbefangenheit des Kindes können wir auch in uns – vielleicht wieder neu - entdecken.
  • Pflegen Sie bewusst eine „Kultur des Alltags“: Menschen und Dingen achtsam begegnen. Persönliche Rituale geben dem Alltag Struktur.
  • Falls Sie Führungsaufgaben wahrzunehmen haben, legen Sie Wert darauf, dass konsequent mit den zentralen Instrumenten (Aufgaben-Klarheit, Zielarbeit, Mitarbeitergespräch, Gesprächsrunden u.a.) gearbeitet wird (s. Hirsmüller D., „Die Führungsmappe“).
  • Das passende Maß an Disziplin, Konsequenz und Begeisterung fördert die Realisierung Ihrer Ziele und Pläne. Nutzen Sie die Dynamik des ersten Schrittes.
  • Und schließlich: Handeln Sie! „Für das Können gibt es nur einen überzeugenden Beweis: das Tun.“ M. V. EBNER-ESCHENBACH

(Diese Texte stammen aus meinem Buch „Mutmacher SEIN / Staunen – Leben – Lieben / Wege zu persönlichem Wachstum“ - 2014)
Dieter Hirsmüller